Buch – Ole Bienkopp von Erwin Strittmatter

Das Buch ist in den 60er Jahren erschienen und erzählt von der Dorfgemeinde Blumenau in der Ole Bienkopp lebt und nach bestem Wissen und Gewissen Landwirtschaft betreibt. Das Leben sagt: der Freund Anton Dürr wurde von einem Baum erschlagen, Frau Anngret zieht es zum Sägemüller Ramsch und was dieser mit den Tod von Anton Dürr zu tun hat? Ungewiss. Ole Bienkopp krempelt die Ärmel hoch und gründet in Antons Sinne BLÜHENDES FELD: einen bäuerlichen Zusammenschluss neuen Typus. Über das Wirken und Gegenwirken in dieser Dorfgemeinschaft und in seinen politisch angeschlossenen Institutionen erzählt das Buch.

Mir war nicht bewusst, dass in den ersten Jahrzehnten der DDR, Texte entstanden, die so …unverblümt… das Leben in der Republik beschrieben.

Anbei das Kapitel in dem der Dichter Hans Hansen das Dorf für eine Lesung besucht. Schön, das Einlassen des Publikums auf die Lesung und das Anbieten von Nachhilfe in Sachen Landgedichte. Hat was gültiges: das Ringen um das Wesen des Tuns. Und immer heikel: vor Experten poetisch sein. 



Es gehen viele Leute zur Dichterstunde in den Tanzsaal von Gotthelf Mischer. Bekommt man alle Tage einen Dichter zu sehn? Hermann Weichelt und einige Altweiberchen sitzen mit gesenkten Blicken wie beim Gottesdienst. Auch der Pfarrer und seine Gemahlin sind gekommen. Sie setzen sich in die dunkelste Ecke des Saales. Franz Bummel freut sich: fast so viele Besucher wie damals beim Gasschlucker.

Den Dichter Hans Hansen scheint der rege Zuspruch nicht weiter zu beeindrucken. Er hat ihn wohl zu verlangen? Seine Dichterpersönlichkeit wird auf der einen Seite von Frau Stamm und Märtke, auf der anderen Seite von Frieda Simson und Lehrer Sigel eingerahmt.

Die große Stunde der Frau Förster Stamm! Dort steht sie: Madonnenfrisur, hochgeschlossenes Kleid aus Chinaseide, erfüllt von der Ehre der staunenden Dorfbevölkerung, den Dichter vorzustellen. Dank dem Poeten, der ihrem schüchternen Ruf folgte und die Fahrt in die ländliche Einsamkeit auf sich nahm!

Karl Krüger lüstet’s mit der Peitsche zu knallen; aber hat er sie bei sich?

Frau Stamm verbreitet sich über die Dichtkunst im allgemeinen und das geschätzte Werk des hochverehrten Gastes im besonderen. “Dichten ist Kunst, und wo sie am unverständlichsten ist, ist sie am tiefsten.”

Lehrer Sigel springt auf. “Glänzender Irrtum!”

Frau Stamm zeigt sich der Lage gewachsen. “Allerdings gibt’s Dichtungen, bei denen man nach einigen Sätzen weiß, in welchen literarischen Niederungen man sich befindet. Schreibereien. Man braucht sie nicht zu Ende zu lesen.”

Zwischenruf von Sigel: “Ich habe nicht von Schematismus gesprochen, wenn’s erlaubt ist.”

Scharfe Diskussion, noch ehe der Dichter eine Zeile las. Frieda Simson schaltet sich ein. “Schluss mit Kaleika! Zur Geschäftsordnung! Ich erteile dem Genossen Dichter das Wort zu seinen Grundsatzausführungen!”

Dem Dichter Hans Hansen zittern die Lippen. Er führt sich selber ein: Ja, er hat viele Gedichte geschrieben, unendlich viele. Gedichte über bekannte und weniger bekannte Probleme, über Einzel- und Gemeinschaftsmenschen, über die Natur und ihre Geschöpfe, aber für hier und heute hat er die ländlichsten seiner Landgedichte herausgesucht und hofft auf wohlwollendes Verständnis, Verzeihung.

Die Leute setzen sich zurecht. Förster Stamm sitzt in der ersten Reihe. Er weiß nicht, ob er seine Frau bestaunen oder bedauern soll.

Der Dichter prüft den Sitz seiner Brille. Sie sitzt, wo sie zu sitzen hat. Er hebt das Manuskript, räuspert sich und liest: “Landeinsamkeit.” Pause, denn das war die Überschrift. Der Dichter beobachtet die Wirkung. Die “Landeinsamkeit” stößt nur auf mäßige Zustimmung.

In Hans Hansens Landgedichten wirken blaue Himmel und grüne Wiesen mit, ab und zu auch ein rauschender Baum, dessen Gattung nicht näher bezeichnet ist. Alle Vögel singen melodisch, keiner piept, und keiner schilpt, und die schwarzen Krähen tragen die trostlose Vergangenheit auf ihren Flügeln von dannen.

Förster Stamm hält das für unmöglich. Krähen sind Standvögel. 

Die Leute hören mit unterschiedlicher Aufmerksamkeit. Hermann Weichelt streichelt mit hornhäutigen Fingern das goldenen Kreuz auf seinem Gesangbuch. Emma Dürr knispelt an einem Asternstrauss. Den Strauß soll sie dem Dichter beim Theaterschluss überreichen. 

Märtke starrt den Dichter an. Bienkopp sucht die Gedanken des Hühnermädchens zu erraten. Der Pfarrer senkt den Blick und zählt Parkettsprossen. 

Hans Hansen hat in seinen Gedichten auch den Genossenschaftsgedanken nicht vergessen: Eine Kornblume steht am Feldrain. Sie lächelt so blau vor sich hin. Die Genossenschaftsbauern pflügen den Feldrain um. Die blaublaue Kornblume wird untergepflügt. Kein Jammer. Das Blümchen hat geblüht, nun ordnet es sich den menschlichen Plänen unter. Eine moderne Blume. Weh dem, der weint!

“Daraus kann man sich eine Weisheit abschneiden”, flüstert Hertchen Bullert. 

“Quatsch, Kornblumen sind Unkraut”, sagt Karle mit dem Gänseflügel. 

Ein anderes von Hans Hansens Gedichten vertieft sich in das Seelenleben eines Einzelbauers. Jedes Jahr pflanzt der Bauer Vergissmeinnicht in seinen Vorgarten. Bald ist der ganze Garten blau. Die Leute bleiben stehn. Was soll das bedeuten? Will der Einzeling die alten Bauernzeiten nicht vergessen? fragen die Genossen. Sie stellen den Einzelbauern zur Rede. Der Bauer erklärt: Die Blaublümchen im Garten besagen, vergesst mich nicht in die Genossenschaft aufzunehmen! Ganz einfach. Wie schön ist das Einfache! 

Karl Krüger schlägt sich missbilligend auf den Schenkel. Für einige Zuhörer ist das der Auftakt zum Beifall. Der Beifall ist dünn wie Tage alter Landregen. 

Frau Stamm bittet, zur Aussprache zu schreiten. Die Aussprache wird länger als die Lesestunde. 

Bienkopp ärgert sich über Märtke. Was starrt und starrt sie den Dichter an? Dieser Mensch ist vielleicht jünger als Bienkopp, aber ist er vollblütig? Sieht Märtke nicht, dass dieser Sänger seine Glatze mit nach oben gekämmten Randhaaren zudeckt? Bienkopp hat keinen Grund, in der Diskussion zurückzustehn: Dichtung ist nicht sein Gewerbe, aber was er hier hörte, war naiv. Gebimmel von Glöckchen. 

“Naivität ist Dichterstärke”, sagt Frau Stamm. 

Märtke meldet sich. Sie errötet bis zu den Mausohren und stottert: Verzeihung, wenn auch sie als junger Kader sich erdreistet; Naivität kann auch Unwissenheit sein. 

Empörung bei Frau Stamm. 

Märtke wird beredsam. Sie will niemand beleidigen. Sie hat an sich selber gedacht. In der Stadt war für sie ein Baum – ein Baum. Genossenschaft – das waren Riesenfelder und umgepflügte Feldraine. Ein Huhn war ein Huhn, aber jetzt weiß sie, dass tausend Hühner tausend Gesichter haben. 

Großes Gelächter. Mutter Nietnagel springt Märtke bei: Auch sie will niemanden zu nahe treten, doch einige Gedichte des Herrn Hansen wirkten wie ausgedacht. 

“Denken und Dichten sind deutsche Stärken”, sagt Frau Stamm. 

“Nein, nein, nein!” Mutter Nietnagel schüttelt sich. Kennt der hochverehrte Gast das neue Landleben? Wenn nicht, muss er’s kennenlernen. Es ist nie zu spät. Die gute, alte Erde rollt noch. Mutter Nietnagel lädt den Gast ein, eine Weile auf dem Dorfe zu wohnen, bitte. 

Die Einladung findet auch Frau Stamms Beifall. Ein guter Vorschlag! Wenn Herr Hansen vorliebnimmt, kann er gern Gast auf der Försterei sein. Die Försterin nickt ihrem Mann zu. Der Förster sieht sich gezwungen, zurückzunicken. 

Ein Glück, dass sich die beiden Diskussionslinien in diesem Punkte trafen. Man hat Erntefest zu feiern und kann nicht ewig um Gedichte streiten. 

Der Dichter ist verwirrt. Stadt und Land sind für ihn nicht mehr getrennte Gerichte auf verschiedenen Tellern. Er fühlt sich freundschaftlich ausgezogen bis aufs Hemd und findet nicht einmal Zeit, beleidigt zu sein. Emma Dürr überreicht ihm den Asternstrauss. “Das Dorf grüßt den Dichter. Es dankt für die Mühe. Es wird schon noch werden, mein Junge.”

Beifall – ein Gewitterregen.

 

(aus Ole Bienkopp von Erwin Strittmatter)